Lasst uns über Kinderschutz reden!
17.09.2023 01:00
Seit 5. September 2023 gibt es nun ein Urteil zum Prozess gegen den prominenten Straftäter. Der Richter, die Richterin und die Schöffinnen haben Recht gesprochen und sehen in ihrem Urteil - Schuldspruch, bedingte Haftstrafe von zwei Jahren und Einweisung in ein forensisch therapeutisches Zentrum mit bedingter Nachsicht, sowie eine fünfjährige Bewährungszeit in einem sehr engmaschigen Kontrollsystem - eine bessere Chance, dass der Verurteilte nach Ende seiner Strafe nicht zum Rückfalltäter wird. Der Verurteilte, der sich im Prozess vollumfänglich geständig und einsichtig gezeigt und sich selbst schuldig bekannt hatte, kann daher seine bereits laufende Psychotherapie außerhalb von Gefängnismauern fortführen. Der Gerichtspsychiater hatte die Empfehlung abgegeben, da beim Verurteilten bereits Therapiefortschritte zu erkennen sind. Gleichzeitig wird der Verurteilte engmaschig kontrolliert (Suchtkontrolle) und begleitet von einem Bewährungshelfer (Verein Neustart). Zudem muss er sich fünf Jahre lang bewähren. Der Richter nannte es ein "Damoklesschwert", das über dem Verurteilten hängt und dass dieser sich dessen bewusst sein müsse. Verstößt er gegen eine der strengen Auflagen, kann das Urteil revidiert werden und er wird doch in ein forensisch thearapeutisches Zentrum eingewiesen. Das Urteil stieß dennoch bei Teilen unserer Gesellschaft auf Kritik und teilweise auf heftige Reaktionen. Die Emotionalisierung geht weiter - auch durch die Medienlandschaft. Ebenso die politische Instrumentalisierung des Falles durch die FPÖ und rechte Gruppierungen, die den Fall zum Anlass nehmen, um nach "härteren Strafen", nach längeren Haftstrafen zu verlangen. Auch die ÖVP stößt in dieses Horn, entgegen allen Empfehlungen von Expert:innen, die immer wieder darauf hinweisen, dass längere Haftstrafen keinen Sucht/Sexual-Täter abschrecken werden. Die ÖVP Jugendstaatssekretärin wies in einer Diskussionsrunde darauf hin, dass die Haltung einer Gesellschaft auch im Gesetz abgebildet sein müsse. Deshalb müsse so ein Vergehen, wie jenes des Verurteilten, eben härter bestraft werden. Zudem gebe es eine große Diskrepanz zwischen Strafen für Vergehen an Leib und Leben und jene gegen Geld und Gut, die weit höher bestraft würden. Dabei möchte ich festhalten, dass es in besagtem Fall des prominenten Straftäters nicht um ein Vergehen gegen Leib und Leben ging! Besonders irritierend ist die plötzliche Instrumentalisierung des "Kinderschutzes" durch rechte Parteien und Gruppen. Freilich verstehen sie etwas gänzlich anderes unter Kinderschutz, als Kinderschutzexpert:innen. Während Kinderschutzexpert:innen und Sexualpädagog:innen nicht müde werden zu betonen, wie wichtig österreichweite, einheitliche Kinderschutzkonzepte, Kinderschutzrichtlinien und sexualpädagogische Schulungen an allen Bildungs-, Freizeit- und kirchlichen Einrichtungen sind, geht es den rechten Parteien und Gruppen nur um Abschreckung und weniger um Aufklärung oder Prävention. Sexualpädagogik kommt in ihrem Konzept nicht vor. Im Gegenteil: auch davor sollen Kinder und Jugendliche offenbar geschützt werden. Was macht also guten Kinderschutz aus? Wieso ist er so wichtig und wie kann er präventiv gegen Gewalt wirken? Was braucht ein gutes und effektives Kinderschutzkonzept? Mittlerweile gibt es einen gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Kinder und Jugendliche geschützt werden müssen und Kinderschutzkonzepte daher unabdingbar sind. Wirksame Kinderschutzpakte schützen nämlich nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch deren Betreuungspersonen, Mitarbeitende von Vereinen und die Institutionen selbst, aber auch potentielle Täter:innen davor, womöglich zum:zur Täter:in zu werden. Ein Kinderschutzkonzept, das gut nach innen und nach außen kommuniziert wird, schafft ein starkes Bewusstsein, Sensibilisierung und Sicherheit darüber, welche Maßnahmen zu setzen sind, sollte ein Übergriff beobachtet werden oder ein sexueller Missbrauchsvorfall vorliegen. Leider sind sich die politisch Verantwortlichen noch nicht im Klaren darüber, dass es ein einheitliches österreichweites und verpflichtendes Schutzkonzept für Kinder und Jugendliche geben muss. „Aus Sicht der kija (Kinder- und Jugendanwaltschaft) Österreich braucht es daher ein umfassendes Kinderschutzgesetz auf bundesgesetzlicher Ebene. Und zwar als verbindlichen Rahmen für alle Organisationen, ob ehrenamtlich oder hauptberuflich geführt: von Bildungseinrichtungen und Nachhilfeinstituten bis hin zu Sport- und Musikvereinen, vom Internat bis zu den Tageseltern, von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe bis hin zu kirchlichen Ordensträgern, vom Gesundheitsbereich (Krankenanstalten, Ambulatorien, niedergelassene Ärzt:innen) bis zum Transportwesen. Dieses Kinderschutzgesetz muss einheitlich im gesamten Bundesgebiet gelten.“[1] Eine Institution, die sich dem Schutz von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie aller ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden vor Grenzverletzungen, Übergriffen und allen Formen der Gewalt verpflichtet, kann nicht umhin, eine Kinderschutzrichtlinie zu installieren und diese muss zur Sensibilisierung und Schulung aller Mitarbeitenden führen. Dabei sollten sich Institutionen Unterstützung bzw ein Monitoring durch Kinderschutzorganisationen holen. Den politisch Verantwortlichen, die sich den Kinderschutz gerne auf ihre Fahnen heften wollen, muss daher klar sein, dass ein wirksames Kinderschutzkonzept auch finanziell abgesichert sein muss. Mitarbeitende - egal ob hauptamtlich oder ehrenamtlich - sollten zumindest eine Kinderschutz-Basisschulung absolvieren und danach eine Selbstverpflichtungserklärung unterschreiben. Ebenso sollten haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende Strafregisterbescheinigungen vorlegen müssen. Die Sensibilisierung und Ausbildung der Mitarbeitenden schafft mehr Sicherheit aller Beteiligten innerhalb der Organisation, stärkt das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen und steigert die Qualität der Angebote für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Um die Qualität eines Kinderschutzkonzeptes sichern zu können, braucht es eine Evaluierung in regelmäßigen Abständen. In einem Evaluierungsprozess kann die Kinderschutzrichtlinie den neuen Herausforderungen der Zeit angepasst werden. Neben einer genauen Risikoanalyse, können der Krisen- und der Maßnahmenplan überarbeitet, alle Schulungsinhalte auf ihre Aktualität überprüft und neue Risikofelder thematisiert werden. Zum Beispiel die Gefahren im digitalen Bereich (Internet, soziale Medien wie TikTok, Gaming-Foren, Cyber Grooming, Sexting, etc.). Die Arbeit an einer Kinderschutzrichtlinie ist ein lebendiger Prozess und eigentlich nie abgeschlossen. Ein Kinderschutzkonzept ist immer nur so gut, wie es von allen Beteiligten wahrgenommen, angenommen und mitgetragen wird. Deshalb muss oberstes Ziel sein, alle Beteiligten innerhalb der Institution – Kinder, Jugendliche, haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende – „ins Boot zu holen“ und teilhaben zu lassen. Als erster Schritt muss eine Risikoanalyse gemacht werden, z.B. mittels einer anonymen Online-Befragung durch die beratende Kinderschutzorganisation. Erfragt könnte werden, wie die Mitarbeitenden die Kinderschutzrichtlinie wahrnehmen, ob sie bereits Erfahrungen gemacht haben mit Beobachtungen, Dokumentationen zu Übergriffen oder Meldungen. Danach erfolgt die Auswertung der Interviews. Die Zahlen und Rückmeldungen der Befragten, könnten z.B. Hinweise liefern über die Kommunikation bzgl der Kinderschutzrichtlinie unter den Mitarbeitenden, über Vorfälle, Sorgen, Befürchtungen, über die Struktur und Auffindbarkeit der Dokumente und Schulungsinhalte etc. In den nächsten Arbeitsprozessen zur Evaluierung können nun die Empfehlungen der beratenden Kinderschutzorganisation in Arbeitsteams umgesetzt werden. Alle Dokumente, der Maßnahmenplan, der Krisenplan, die Dokumentationshilfen und alle Schulungsunterlagen müssen überarbeitet werden. Es muss ein klares Leitbild und ein Verhaltenscodex erstellt werden. Ein:e Kinderschutzbeauftragte:r und eine Beschwerdestelle sollten eingesetzt werden. Ein Konzept eines internen Netzwerks von Vertrauenspersonen sollte erstellt werden, ebenso ein sexualpädagogisches Konzept. Konsequenzen bei Fehlverhalten müssen formuliert werden. Kinder und Jugendliche sollen sich beteiligen dürfen. Da jede:r von Gewalt betroffen sein kann, sollte der Gewaltschutz für alle Altersgruppen und alle Mitarbeitenden gelten. Die (Kinder)Schutzrichtlinie sollte nach innen über die sozialen Medien, über Multiplikator:innen, über die Homepage und die Kontakte zwischen Jugendlichen und Mitarbeitenden weitergetragen werden. Kommuniziert werden sollte sie von der "obersten Etage" einer Institution bis zur Basis. Es muss ein klares Konzept für die Kommunikation nach außen (Presse, Medienberichte etc) erstellt werden. Der letzte wichtige Schritt, ist die Implementierung der Schutzrichtlinie auf allen Ebenen und Bereichen der Institution. Abschließend muss angemerkt werden, dass der beste Schutz vor Grenzüberschreitungen, Übergriffen und Gewalt gute und wirksame Schutzkonzepte sind, die sensibilisieren und präventiv wirken. Wichtig dabei ist die Einbindung aller Beteiligten. Und ein Urteil, das einen Täter dabei unterstützt, kein Rückfalltäter zu werden, ist für den Kinderschutz sinnvoll. "Rechtsstaat, nicht der Galgen", Wolfgang Sablatnig
[1] ECPAT Österreich, Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Rechte der Kinder vor sexueller Ausbeutung
[2] https://www.die-moewe.at/de/ueber-uns „die möwe“ ist eine der größten österreichischen Kinderschutzorganisationen und begleitet Institutionen und Organisationen dabei, sich noch achtsamer nach Kinderrechten und Kindeswohl auszurichten und ein passgenaues Kinderschutzkonzept, das Gewalt systematisch entgegenwirkt, zu entwickeln.
[1] https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20220712_OTS0067/kinderschutz-jetzt-verbessern Es braucht ein umfassendes österreichweites Kinderschutzgesetz
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